SAMSTAG, 20.22 UHR

Um acht Minuten vor halb neun verließ er das Haus, nahm diesmal seinen Jaguar und fuhr zu dem ausgedehnten Gut des Grafen, wo das Fest stattfand. Er traf viele bekannte Gesichter, Hände wurden geschüttelt, es schien, als freuten sich die meisten, ihn zu sehen, doch wenn man genauer hinsah, wurde klar, dass es im Grunde kaum jemanden interessierte, ob er da war oder nicht. Auch er war nur wegen einer einzigen Person gekommen, die jedoch erst in zwei, drei Stunden eintreffen würde. Hans Schmidt blieb dreieinhalb Stunden, erging sich in unsäglichem Smalltalk, den er hasste, aber als Mittel zum Zweck perfekt beherrschte, denn er verstand es, sich jeder Situation anzupassen. Er trank nur ein Glas Wein zum Essen, danach hielt er sich ausschließlich an Wasser. Ein grellgeschminktes Vollweib von höchstens fünfundzwanzig Jahren, bei dessen überdimensioniertem Busen ein Chirurg kräftig nachgeholfen hatte, umgarnte ihn fast den ganzen Abend und ging ihm damit zunehmend auf die Nerven, was er sie einige Male recht deutlich spüren ließ. Sie ließ sich davon nicht beeindrucken, vermutlich, weil sie zu beschränkt war, um die Zeichen zu erkennen. Diese Art von Frauen kannte er zur Genüge. Nach zahllosen vergeblichen Versuchen ließ sie endlich enttäuscht von ihm ab und wandte sich wieder ihrem Begleiter zu, einem fettleibigen und mindestens dreißig Jahre älteren Mann mit einem feisten Gesicht, seine Körperfülle war mindestens so beeindruckend wie sein Konto. Schmidt kannte ihn seit Jahren, ein Baulöwe, der es durch zahlreiche dubiose Geschäfte und Bestechung zu einem beträchtlichen Vermögen gebracht hatte. Schmidts eigentliche Aufgabe bestand an diesem Abend darin, eine bestimmte Person nicht nur zu beobachten, sondern sich auch mit ihr zu unterhalten. Peter Bruhns traf erst gegen dreiundzwanzig Uhr ein, er kam direkt von einer Fernsehsendung, die er nicht nur produzierte, sondern deren unumstrittener Star er auch war. Bruhns war neunundvierzig Jahre alt und nur etwas über eins siebzig groß, wobei er nicht klein wirkte, denn er trug in der Öffentlichkeit stets Schuhe, die ihn mindestens fünf Zentimeter größer erscheinen ließen. Er hatte sehr kurz geschnittenes dunkelbraunes Haar und braune, bei genauerem Hinsehen stechende Augen, auch wenn er häufig lachte, vor allem über seine eigenen, oft zotigen Witze. Er war Musikproduzent und hatte schon zahlreiche Hits mit diversen Künstlern in den Charts gelandet, aber das genügte ihm nicht. Er hatte ein großes Ziel vor Augen: Er wollte unbedingt in der Liga der ganz Großen mitspielen, Frank Farian, Dieter Bohlen oder Jack White und anderen Superstars, allerdings war er noch ein Stück von deren Erfolg als Produzent entfernt. Und doch gab es in der Unterhaltungsindustrie Deutschlands der letzten Jahre kaum jemanden, der so sehr die Massen in seinen Bann zog. Es waren besonders die jungen Menschen, die ihn fast wie einen Gott verehrten und in ihm ein Vorbild sahen.

Schmidt kannte Bruhns seit vielen Jahren, sie waren sich schon bei diversen Veranstaltungen über den Weg gelaufen, hatten sich privat verabredet oder in einem seiner Restaurants, hatten viel miteinander gesprochen, meist belangloses Zeug, über die Yacht, das Meer, das Wetter, die Frauen. So belanglos und leer Bruhns in seinem Innern war, so gab er sich auch im privaten Rahmen. Nur nicht in der Öffentlichkeit, wo er es seit einiger Zeit meisterhaft verstand, sich selbst zu feiern und immer wieder zu betonen, dass er der erfolgreichste Komponist und Produzent aller Zeiten in Deutschland sei, was sich anhand der Verkaufszahlen jedoch leicht widerlegen ließ, doch noch zwei oder drei Jahre, und er würde vielleicht an der Spitze stehen.

Ein sich selbst maßlos überschätzender Selbstdarsteller, wie es nur wenige und doch zu viele auf der Welt gab. Unangenehm, obszön und unendlich langweilig, sobald man ihn etwas näher kannte. Aber Schmidt hatte Bruhns nie spüren lassen, was er wirklich über ihn dachte. Eine Viertelstunde nach Mitternacht, noch bevor die Gesellschaft sich aufzulösen begann, verabschiedete sich Schmidt, nicht ohne sich vorher mit der Zielperson Bruhns eine Weile freundschaftlich, doch auch geschäftlich unterhalten zu haben. Unauffällig brachte er einen winzigen Peilsender an Bruhns' weißem Porsche Cayenne an, setzte sich in seinen Wagen, fuhr gut hundert Meter vom Grundstück weg und wartete geduldig.

Bereits sieben Minuten später verließ Bruhns die Villa und fuhr mit seinem Porsche an Schmidt vorbei, auf dem Beifahrersitz eine bildhübsche junge Blonde, die nur wenige Minuten vor Bruhns auf der Party eingetroffen war. Bruhns hatte sich nicht mit ihr unterhalten, vermutlich, damit niemand merkte, dass er sich mit der jungen Dame später noch vergnügen wollte. Schmidt wusste viel über sie, achtzehn Jahre alt und ein durchtriebenes Biest. Und sie passte perfekt in Bruhns' Beuteschema. Je älter er wurde, desto jünger wurden seine Geliebten, alle klein bis mittelgroß, blond bis rotblond und vollbusig, nordischer oder slawischer Typ mit markanten Gesichtszügen - und vor allem sehr jung.

Wie schon bei Schumann und so vielen anderen, die Schmidts Weg gekreuzt hatten, suchte auch hier ein allmählich alternder Mann ständig nach Bestätigung, eine Suche, die nie ein Ende finden würde, gäbe es nicht Hans Schmidt. Die Frauen wurden nicht von Bruhns' Intelligenz oder seinem guten Aussehen angelockt, sondern kamen nur seines gesellschaftlichen Status und vor allem seines Geldes wegen. Viele, wenn nicht gar die meisten von ihnen, erhofften sich durch ihn eine Karriere im Musikbusiness, doch alles, was Bruhns wollte, war die Abwechslung im Bett.

Diese Affären interessierten Schmidt allerdings nicht im Geringsten. Während Bruhns in der Boulevardpresse, den Schmierblättern und Talkshows herumgereicht wurde, wusste Schmidt von seinen wahren Schattenseiten, wobei der Begriff »Schattenseiten« zu kurz griff. Vielmehr taten sich Abgründe auf, in denen sich Bruhns seit Jahren bewegte. Aber darüber wurde nicht berichtet, weil nicht einmal die gewieftesten Pressevertreter davon wussten. Bruhns war für die Öffentlichkeit Oberfläche, sein aufgesetztes Lächeln, seine bisweilen scheinbar klugen Sprüche, die zur Schau gestellte Seriosität, mit der er seine Niedertracht überspielte (überhaupt war fast alles, was er sagte und tat, gespielt), die von ihm wohldosierten Schlagzeilen, mit denen er beinahe täglich die Medien bediente, die Selbstsicherheit, die er an den Tag legte, sein Bekenntnis zu Gott und seinem Elternhaus, seine einfache Herkunft und wie seine Eltern sich krumm gelegt hätten, um ihrem Sohn ein Studium zu ermöglichen ... Kaum etwas davon stimmte, und so sollte es auch bleiben. Den wahren Bruhns zu zeigen wäre nicht nur einer Blasphemie gleichgekommen, es hätte die Nation in einen Schockzustand versetzt, obwohl er laut Fachmeinung nur ein mittelmäßiger Musikproduzent war, der es jedoch perfekt verstand, den Geschmack einer breiten Masse zu bedienen. Denn er hatte einen Vorteil gegenüber vielen seiner Konkurrenten: Er war ein begnadeter Komponist, der schon Songs für die größten Stars geschrieben hatte und vor allem dadurch zu enormem Reichtum gelangt war.

Doch Schmidt war gewappnet, denn wie kaum ein anderer bewegte er sich lautlos inmitten dieser Abgründe, aus denen Bruhns schon lange nicht mehr herausfand. Schmidt hingegen war ein Wanderer zwischen den Welten, der den Ausgang aus dem Labyrinth der Abgründe genauestens kannte, denn er hielt sich immer nur so lange dort auf, wie ein Auftrag es erforderte. Er war ein Künstler, wie es keinen zweiten gab. Es konnte nur einen Hans Schmidt geben oder einen Pierre Doux oder Martin Sanchez oder Henry Jones oder Michail Petrow ... Er trat unter vielen Namen auf, den richtigen kannten nur er und seine erste Auftraggeberin, die ihr Versprechen bis heute gehalten und niemals seinen wahren Namen preisgegeben hatte. So blieb er ein Phantom - und würde es immer bleiben. Das war auch gut so, denn wussten die anderen, welcher Tätigkeit er neben seinen offiziellen Geschäften nachging, sie hätten vor Entsetzen die Hände vor das Gesicht geschlagen. Er würde längst in einer Gefängniszelle dahinvegetieren, oder, noch wahrscheinlicher, er wäre gar nicht mehr am Leben. Aber Schmidt war unfassbar, im wahrsten und übertragenen Sinn des Wortes. Seine Tarnkappe saß perfekt. Und seine Auftraggeber wussten, was sie an ihm hatten.

Doch diesmal hatte er eine besondere Überraschung parat: Er hatte für Bruhns und seine kleine Geliebte ein Geschenk mitgebracht, eigentlich weniger für das Pärchen als für die Polizei - ein kleines Bonbon, an dem sie lange zu knabbern hätte, hing es doch mit anderen Fällen zusammen, die offiziell als aufgeklärt galten. Zumindest war dies am Freitagabend so vermeldet worden. Schmidt wusste es besser, denn er hatte seit nunmehr beinahe zehn Jahren an sämtlichen Tatorten Spuren hinterlassen, kleine, feine Spuren. Manchmal wurden sie gefunden, häufig nicht. Er war gespannt, ob man sie diesmal entdecken würde.

Aber das war noch nicht alles, Bruhns war nur der Anfang von etwas, was Schmidt seit dem letzten Sommer vorhatte und das er jetzt endlich durchführen konnte. Er hatte auf die Gelegenheit gewartet, alles durchgeplant, und nun war die Zeit reif, die Früchte zu ernten. Danach würde er sich zur Ruhe setzen und nie wieder einen Auftrag annehmen. Er würde die E-Mail-Adresse löschen, über die seine Auftraggeber bisher Kontakt zu ihm aufgenommen hatten, und ein ganz gewöhnliches Leben führen. In Lissabon, Nizza, Cannes und Saint Tropez. Er würde viel reisen. Und Maria würde er überallhin mitnehmen.

 

Eisige Naehe
titlepage.xhtml
jacket.xhtml
Eisige Naehe_split_000.html
Eisige Naehe_split_001.html
Eisige Naehe_split_002.html
Eisige Naehe_split_003.html
Eisige Naehe_split_004.html
Eisige Naehe_split_005.html
Eisige Naehe_split_006.html
Eisige Naehe_split_007.html
Eisige Naehe_split_008.html
Eisige Naehe_split_009.html
Eisige Naehe_split_010.html
Eisige Naehe_split_011.html
Eisige Naehe_split_012.html
Eisige Naehe_split_013.html
Eisige Naehe_split_014.html
Eisige Naehe_split_015.html
Eisige Naehe_split_016.html
Eisige Naehe_split_017.html
Eisige Naehe_split_018.html
Eisige Naehe_split_019.html
Eisige Naehe_split_020.html
Eisige Naehe_split_021.html
Eisige Naehe_split_022.html
Eisige Naehe_split_023.html
Eisige Naehe_split_024.html
Eisige Naehe_split_025.html
Eisige Naehe_split_026.html
Eisige Naehe_split_027.html
Eisige Naehe_split_028.html
Eisige Naehe_split_029.html
Eisige Naehe_split_030.html
Eisige Naehe_split_031.html
Eisige Naehe_split_032.html
Eisige Naehe_split_033.html
Eisige Naehe_split_034.html
Eisige Naehe_split_035.html
Eisige Naehe_split_036.html
Eisige Naehe_split_037.html
Eisige Naehe_split_038.html
Eisige Naehe_split_039.html
Eisige Naehe_split_040.html
Eisige Naehe_split_041.html
Eisige Naehe_split_042.html
Eisige Naehe_split_043.html
Eisige Naehe_split_044.html
Eisige Naehe_split_045.html
Eisige Naehe_split_046.html
Eisige Naehe_split_047.html
Eisige Naehe_split_048.html
Eisige Naehe_split_049.html
Eisige Naehe_split_050.html
Eisige Naehe_split_051.html
Eisige Naehe_split_052.html
Eisige Naehe_split_053.html
Eisige Naehe_split_054.html
Eisige Naehe_split_055.html
Eisige Naehe_split_056.html
Eisige Naehe_split_057.html
Eisige Naehe_split_058.html